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Israel – ein hochkomplexes Thema

„Eines ist mir heute wieder klargeworden: das Thema ist noch viel komplexer als ohnehin gedacht. Je mehr Antworten ich bekomme, desto mehr Fragen habe ich“, mit diesem Redebeitrag  brachte ein Besucher des Vortragsabends die Stimmung im Raum auf den Punkt. Der Journalist und Theologe Johannes Gerlach ist ein echter Insider, ein Experte zum Staat Israel und dessen inneren wie äußeren Konflikten. Sein frei gehaltener Vortrag war sprachlich lebendig, blieb aber inhaltlich verwirrend. Denn er spielte lieber mit Andeutungen, formulierte Sätze mit offenem Ende, überließ es den Zuhörern, eigene Schlüsse zu ziehen.
Wahrscheinlich wurde er damit der Situation eher gerecht als die vielen Besserwisser eines allzu eiligen Journalismus, der „mit heißer Nadel gestrickte“ Schlüsse zieht, bzw seine vorgefassten Urteile immer bestätigt findet – auch wenn wie Realitäten dagegen sprechen.

Dazu ein paar Notizen aus meinem Mitschrieb:

Wir haben von Europa aus gar kein Bewusstsein dafür, wie international und vor allem orientalisch der Staat Israel geprägt ist. Ein großer Teil der Juden stammt aus arabischen Staaten – in Folge des großen Bevölkerungsaustauschs nach 1948. Etwa eine Million kam in den 90er-Jahren aus Russland hinzu. All diese Menschen brachten keinerlei demokratische Tradition mit.
Ähnliches gilt aber auch für die Ultraorthodoxen. Die Rabbiner sehen heute viele demokratisch legitimierte Entscheidungen als Zeichen der Abkehr von Gott – ganz im Sinne der alttestamentlichen Geschichte, wo die Mehrheit des Volkes ums goldene Kalb tanzte, anstatt sich dem einen Gott zuzuwenden. All diese politischen Richtungen finden sich im israelischen Parlament, bzw. in der Regierung wieder!
Die letzte Regierung hatte sogar eine radikal-islamische Partei dabei, die sich mit den Muslimbrüdern verbunden weiß. Auch diese Regierung beschloss Luftangriffe gegen Raketenstellungen und Hamas-Führer im Gaza-Streifen!

Während in den ersten Jahrzehnten europäisch geprägte Sozialisten wie David ben Gurion und die Arbeiterpartei das Sagen hatten, erreicht die Arbeiterpartei heute bei Wahlen nur ganz knapp die 3%-Hürde! Die ashkenasische Elite, die heute noch den obersten Gerichtshof ausmacht, hat das Gros der Bevölkerung nicht mehr hinter sich!

In der rabbinischen Diskussion denkt man über das Gold nach, das einst die Kinder Israels auf der Flucht aus Ägypten mitgenommen haben (vgl. Ex 3,21f). Dieses Gold wurde einerseits fürs Goldene Kalb, aber auch für die Stiftshütte verwendet. Heute sehen viele europäisch geprägte Rabbiner die Demokratie als „Gold“ an, das die Juden ins Heilige Land mitgebracht haben. Auch dieses Gold kann unterschiedlich verwendet werden, zum Guten oder zum Schlechten. Demokratie an sich ist noch nicht die Lösung, sie braucht auch Werte!

Israel ist weitaus weniger stark von den Orthodoxen dominiert als die Weltöffentlichkeit dies wahrnimmt. Ein Beispiel: Der Vorsitzende des Parlaments ist bekennender Homosexueller, er bekleidet eines der sieben höchsten Ämter des Staates! Die staatliche Rechtsordnung ist übrigens säkularer als die von Deutschland. Sie enthält keinen Gottesbezug. Es gibt in Israel auch keine gesetzlichen Feiertage mit religiösem Bezug.

Die sogenannte Zwei-Staaten-„Lösung“ ist eine Farce. Niemand in Israel glaubt noch ernsthaft daran. Selbst die eher linken Politiker, die immer noch davon sprechen, habe für Palästina ein Gebiet im Sinn, das als Staatsgebiet völlig unrealistisch ist und keine Zustimmung von der arabischen Seite erwarten kann. Faktisch hätte ein solches Gebiet ja auch den Charakter eines arabischen „Ghettos“, abgeschirmt und dennoch weiterhin abhängig von Israel.  Theoretisch denkbar wäre nur die Variante eines jordanisch-palästinensischen Staates, also eines gemeinsamen Staates aus Jordanien und Palästina. Doch eine solche Entwicklung ist aktuell nicht erkennbar. Juden und Arbeiter müssen wohl irgendwie damit umgehen lernen, einen gemeinsamen Staat zu bevölkern – nur, was wird dann aus der ursprünglichen Vision eines Judenstaates?

Stichwort Iran: Israel hat kein generelles Problem damit, dass der Iran ein Atomstaat wird. Sorgen macht man sich allerdings angesichts einer iranischen Regierung, die nicht nur radikal-islamisch, sondern auch apokalyptisch denkt: der ersehnte Mahdi (die endzeitliche Erlösergestalt der Schiiten) kommt erst nach einem verheerenden Krieg! Außerdem fürchtet Israel eine generelle Änderung der Machtverhältnisse, wenn der Iran Atomwaffen hat. Denn dann wird die internationalen Staatengemeinschaft erpressbar. Da der Iran enge Kontakte zu vielen Terrorgruppen unterhält, könnten diese in Zukunft unter einem atomaren Schutzschild agieren…

 

Der Abend mit Johannes Gerloff löste jedenfalls viel Nachdenken aus….