Einige Notizen aus einem spannenden Gespräch:
Alexander und Natalija Welew kamen Mitte März hier in Gomaringen an, nachdem sie Ende Februar ihre Heimat verlassen mussten. Ihr Dorf östlich von Odessa war von russischen Raketen beschossen wurde. Sie machten sich auf den Weg mit vollgepacktem Auto und der bangen Hoffnung, irgendwo noch genügend Benzin aufzutreiben für die lange Reise bis zur Grenze. Im Auto saßen neben dem Ehepaar ihre erwachsenen Töchter und die beiden Enkelkindern (fünf Jahre und drei Monate alt). Der Schwiegersohn musste zurückbleiben, er gilt als unabkömmlich – wie alle Männer unter 60, aber insbesondere auch als Arzt an einer lokalen Klinik. Die Reise führte zunächst auf der Autobahn Richtung Kiew, wo sich nach 70 km noch eine zugängliche Tankstelle fand. Weiter ging es etwa 200 km bis zu einer Stelle, wo wegen eines Raketeneinschlags die Fahrbahn umpassierbar wurde. Zum Glück erhielten sie aufgrund der Kinder im Auto von der Polizei die Sondergenehmigung, auch über die Dörfer fahren zu dürfen – eine beschwerliche Reise auf ungepflastertem Untergrund. Hinter Kiew ging es dann die ganze Nacht durch im Schritttempo weiter, ein 90 km langer Stau bis zur Grenze nach Rumänien.
An der Grenze wurden die jungen Frauen und die Kinder sofort durchgelassen, Alexander und Natalija standen noch eine ganze Woche an Behördengängen bevor, bis er dann schließlich aufgrund seiner Herzerkrankung durchgelassen wurde, obwohl er mit 56 Jahren noch unter der Altersgrenze für Männer lag, die zur Heimatsverteidigung im Land bleiben mussten.
Die Familie fand sich wieder in Gomaringen, weil hier ihr Sohn schon seit mehreren Jahren als Tübinger Germanistik-Student lebte und seine Gomaringer Gasteltern, Familie Gärtig, ihr Haus für sie öffnete. Inzwischen lebt die Familie in der Liststraße.
Alexander Welew hat eine bewegte Vergangenheit:
Von Jugend auf gehörte er der baptistischen Gemeinde an. Baptisten haben in Osteuropa eine lange Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert gab es große Gemeinden in Russland und in der Ukraine, die auch die langen Jahre des Kommunismus überlebt haben – trotz schwerer Benachteiligung und auch Misshandlungen durch ein stalinistisch-sowjetisches Regime, dessen erklärtes Ziel die Ausrottung der Religionen war.
Manchmal kam es dabei zu bizarren Situationen: Alexander Welew erzählt von seinem Großvater, der als bekennender Mennonit und Pazifist in beiden Weltkriegen den Militärdienst verweigerte. Einmal rückte bereits ein Erschießungskommando an. Der Befehlshabende schrie die Todgeweihten an: „Ihr könnt euch retten, wenn ihr zwei Schritte nach vorne tretet und dabei eurem Gott abschwört!“. Viele taten das, andere blieben stehen; darunter auch Welews Großvater. Doch dann sagte der Kommandeur: „Wer so leicht seiner Überzeugung abschwört, den können wir in der Sowjetunion nicht gebrauchen!“. Daraufhin erteilt er den Befehl, die Vorgetretenen zu erschießen…
Alexander nahm nach der Schule schon in jungen Jahren ein Ingenieurstudium auf und wurde schließlich Fachmann für die Überwachung von Stahl-Hochöfen im Raum Odessa, die mit besonders hochwertiger Kohle aus dem Dombass-Gebiet betrieben wurden. Mitte der achtziger Jahre trat wie alle anderen in die sowjetische Armee ein. Er sollte damals wie alle anderen seiner Einheit nach Afghanistan. Doch dazu musste er ein Formular ausfüllen, das auch die Frage enthielt: „Glauben Sie an Gott?“ Ihm war sehr wohl bewusst, dass sein „Ja“ zu demütigenden Nachteilen führen würde! So kam es dann auch: ein halbes Jahr lang arbeitete er als Soldat auf einem Schweinehof. Doch dann ging es in die damalige DDR nach Mecklenburg, wo er mit Gottes Führung von einem Offizier in dessen Schreibstube bestellt wurde. Er wurde befördert und war fortan zuständig fürs Zeichnen von militärischen Karten, musste sich aber für zehn Jahre verpflichten, wenn er dieser Aufgabe nachkommen wollte. In jener Zeit in Mecklenburg suchte er als bewusster Christ Anschluss an eine lokalen, natürlichen deutschsprachigen Christengemeinde. So lernte Alexander Deutsch und konnte schließlich auch Kontakt zu einer baptistischen Bibelschule in der DDR knüpfen.
Die Wiedervereinigung Deutschlands bedeutete schließlich für Alexander Welew schon nach 5 statt 10 Jahren die „Wiedervereinigung“ mit seiner Heimat Ukraine und vor allem die Möglichkeit, seine Braut Natalija dort endlich zu heiraten. Denn die sowjetischen Soldaten wurden aus der DDR abgezogen und die weitere Amtspflicht erlosch für Alexander. Die beiden heirateten 1993 und er besuchte durch Vermittlung der Südosteuropa-Mission aus dem Siegerland eine Bibelschule in Wolgograd, dem einstigen Stalingrad, um nebenberuflich als Pastor und Missionar arbeiten zu können.
Seit inzwischen 25 Jahren war er nun als Pastor in einer dörflichen Gemeinde bei Odessa tätig, einer Gemeinde mit 400 Mitgliedern, mit agiler Kinder- und Jugendarbeit, sonntäglichen Gottesdiensten, die jeweils 2 Stunden dauerten (mit zwei Predigten…) und dem missionarischen Auftrag, Menschen zu erreichen, in deren Leben der Glaube an Gott bisher keine Rolle spielte.
Seine Erfahrungen als Ortspastor konnte er auch im Reisedienst durch verschiedene Länder Osteuropas weitervermitteln. Er machte Gemeindebesuche in Bulgarien, Slowenien, Polen, Moldawien und unter den Tartaren auf der Krim.
Und dann kam der Krieg, die Flucht nach Deutschland – und ein neuer Auftrag:
Inzwischen hält Alexander Welew mit der Unterstützung seiner Frau Natalija ukrainisch-sprachige Gottesdienste in Gomaringen, an denen auch Geflüchtete teilnehmen, die in Sonnenbühl, in Nehren und in anderen umliegenden Orten gelandet sind.
Die mit etwa 40 Personen gar nicht so kleine Gottesdienstgemeinde trifft sich sonntags um 11:30 Uhr im Gemeinschaftshaus der Apis, mit Gesang, Gebet und Predigt, aber auch mit anschließendem Austausch bei Kaffee und Kuchen. Bei einem weiterem Wachstum steht ein Wechsel ins Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde an, das neben seiner Größe auch den Vorteil eines barrierefreien Zugangs hat. Dieser ist vor allem von Bedeutung für die vielen Gehbehinderten, die in der Gomaringer Grundstraße untergebracht sind und ebenfalls an jenen Gottesdiensten teilnehmen möchten.
Hier geht’s zu einem GEA-Zeitungsartikel der Journalistin Walderich, die ebenfalls bei dem Gespräch zugegen war