Ein „Lexikon der irreführenden Begriffe“ stand am 13.10. in der WELT. Die Zusammenstellung des deutsch-amerikanischen Journalisten Hannes Stein sollte jeder zur Kenntnis nehmen! Deshalb veröffentliche ich sie hier als Beitrag auf unserer Homepage:
Wenn es um den Nahost-Konflikt geht, werden häufig — gedankenlos oder böswillig — Ausdrücke verwendet, die gefährlich in die Irre führen. Eine Übersicht, welche Wörter von A bis Z künftig besser ungesagt blieben.
Alttestamentarisch
Es heißt alttestamentlich. Das ist keine Beckmesserei, es geht nicht nur um die richtige Endung: Das Wort alttestamentlich ist neutral, während es sich bei dem Wort alttestamentarisch um eine judenfeindliche Schmähvokabel handelt. Wer dieses Adjektiv verwendet, will keineswegs darauf hinweisen, dass das Gebot der Nächstenliebe im Alten Testament verankert ist oder dass die alttestamentlichen Propheten dem Volk Israel einschärften, die Rechte der Armen zu achten.
Alttestamentarisch heißt vielmehr: finster, erbarmungslos, unaufgeklärt — Auge um Auge, Zahn um Zahn. Als wäre dieses Gesetz nicht der Abschied von der Blutrache gewesen; als hätten die Juden es von Anfang an nicht als Maß für materiellen Schadensersatz verstanden.
Apartheid
Wenn Israel ein Apartheidstaat ist, dann ein höchst seltsamer: Arabische Israelis genießen volle Bürgerrechte, manche von ihnen dienen in der Armee, in der Knesset (dem israelischen Parlament) sitzen arabische Parteien. Das soll nicht heißen, dass alles in Ordnung ist. Es gibt im Alltag rüde Diskriminierungen, und die Palästinenser im Westjordanland — die weder israelische Staatsbürger sind noch einen eigenen Staat haben — leben unter einem Besatzungsregime.
Die Gefahr, dass Israel sich in ein Apartheidregime verwandelt, ist real. Wer das heutige Israel aber einen Apartheidstaat nennt, der plappert. Und sollte in einem Moment, in dem eine islamistische Mörderbande an einem einzigen Tag mehr als tausend Juden umgebracht hat — so viele wie seit Auschwitz nicht mehr —, einfach den Mund halten.
Besatzung
Hier gilt es sehr genau hinzuhören, wer dieses Wort verwendet und wovon er oder sie spricht. Das Westjordanland steht zweifellos unter israelischer Besatzung, und es ist völlig legitim, diese Tatsache und die Methoden der Besatzungsmacht zu verdammen. Aber wenn die Hamas und ihre westlichen Verbündeten dieses Wort im Munde führen, so meinen sie etwas anderes: Für sie sind auch Tel Aviv, Haifa und Westjerusalem besetztes Land.
Wenn sie die Zerstörung des Besatzungsregimes fordern, so meinen sie das Ende Israels. Kleine Erinnerung: Der Gaza-Streifen ist seit 2005 nicht mehr besetzt. Es ist in Ordnung zu beklagen, dass Israel und Ägypten den Gaza-Streifen abgeriegelt haben. Aber Besatzungsmacht ist Israel dort schon lange nicht mehr.
Kolonialismus
Unter radikalen Linken hat sich eingebürgert, den Staat Israel als koloniales Projekt zu begreifen. Die europäischen Kolonialmächte unternahmen seit dem 15. Jahrhundert rund um den Erdball mörderische Raubzüge, unterwarfen einheimische Bevölkerungen, metzelten sie häufig auch nieder, rissen sich Gold, Elfenbein, Kakao oder Zucker unter den Nagel und beteiligten sich an einem der größten Menschheitsverbrechen überhaupt: der Sklaverei.
Die Kolonialbevölkerungen, die sich auf verschiedenen Erdteilen ansiedelten, hatten immer ein Mutterland, in das sie zurückkehren konnten. Welche Bodenschätze gab es in Palästina, die von Zionisten ausgebeutet wurden? In welches Mutterland konnten etwa Juden aus Polen zurückkehren, die nach dem Zweiten Weltkrieg Pogromen ausgesetzt waren? Oder die Juden aus Bagdad, die 1948 von ihren arabischen Nachbarn vertrieben wurden? Oder die äthiopischen Juden, die elend lange Wanderungen voller Entbehrungen und enormer Verluste zurücklegten, weil sie in Äthiopien als Zauberer und Hexen verfolgt wurden?
Kriegsverbrechen
Sollte die israelische Armee sich bei den Kämpfen im Gaza-Streifen in eine mordende Soldateska verwandeln, die Genozid mit Genozid vergilt, so müsste diese schärfstens angeprangert werden. Gerade aus jüdischen Quellen geht dies hervor. Lo tirzach, steht in der hebräischen Bibel — Du sollst nicht morden. Der Talmud führt aus: Es ist verboten, unschuldiges Blut zu vergießen — nicht: jüdisches Blut, sondern unschuldiges Blut!
Aber Opfer unter der Zivilbevölkerung allein sind noch kein Beweis dafür, dass ein Kriegsverbrechen vorliegt. Zum Mord gehört die Absicht: Wenn im Schusswechsel versehentlich Kinder getötet werden, so ist das entsetzlich und tragisch. Wer das Leid palästinensischer Eltern, die um ihre Kinder trauern, nicht nachfühlen kann, braucht dringend psychiatrische Behandlung. Aber es handelt sich nicht unbedingt um Verbrechen.
Bisher gibt sich das israelische Militär größte Mühe, keine Zivilisten umzubringen. Vor einem Angriff auf militärische Infrastruktur wird die Bevölkerung mehrfach gewarnt (durch Anrufe, Flugblätter, „Dachklopfen“ mit Granaten ohne Sprengkopf). Und in einem Punkt ist das Kriegsvölkerrecht sehr eindeutig: Ein Kriegsverbrecher ist, wer Zivilisten als Geiseln hält und militärische Anlagen in Wohngebieten versteckt.
Rache und Vergeltung
Dass die Juden nach Rache dürsten, gehört zu den ältesten judenfeindlichen Stereotypen. Ursprünglich handelt es sich um ein heidnisches, später ein christliches Vorurteil. Im 19. Jahrhundert verbreiteten völkische Propagandisten, die Juden seien wurzellos und trachteten danach, sich an ihren Wirtsvölkern zu rächen.
Wenn die israelische Armee militärische Anlagen der Hamas zerstört, wenn sie gezielt Kommandeure und Kämpfer der Hamas tötet, so handelt es sich nicht um Rache. Sie erfüllt den Kampfauftrag, den im Kriegsfall jede westliche Armee — auch die Bundeswehr — hätte: Sie schützt die eigene Zivilbevölkerung.
Siedlungen
Das Thema ist echt heikel – aber man muss genauer hinschauen. Es gibt zum einen die größeren Wohngebiete rund um Jerusalem und Tel Aviv, die zwar jenseits der grünen Linie liegen, aber eigentlich eher wie Vororte funktionieren. Da geht’s weniger um politische Expansion, sondern einfach darum, dass der Wohnraum knapp ist – für Juden und Araber. So ähnlich passiert das auch in anderen Ländern, zum Beispiel in der Türkei.
Ganz anders sieht’s aber mit den kleinen, oft provokativen Siedlungen mitten im Westjordanland aus. Die werden von teils radikalen, meist amerikanischstämmigen Nationalreligiösen gegründet, die von einem Groß-Israel träumen. Und ja, das ist ein echtes Problem – auch weil die israelische Regierung da viel zu oft wegsieht.
Übrigens, was viele nicht wissen: Wenn man dort ein Haus kauft, steht im Kaufvertrag ausdrücklich drin, dass das nicht offiziell israelisches Staatsgebiet ist – und man das Eigentum eventuell wieder abgeben muss. Also alles gar nicht so schwarz-weiß, wie es oft dargestellt wird.
Spirale der Gewalt
Das ist eines der dümmsten Klischees der Nahost-Berichterstattung. Es setzt voraus, dass hier zwei Gegner miteinander ringen, die dasselbe Ziel verfolgen — das ist aber nicht der Fall. Die Hamas will Israel vernichten, sie will die israelische Zivilbevölkerung (nicht nur die Juden, auch die israelischen Araber) bis auf den letzten Säugling abschlachten.
Wollte Israel die Palästinenser vernichten, könnte es dies jederzeit tun, es hat gewiss die Mittel dazu. Wie dumm das Klischee von der Gewaltspirale ist, zeigt folgendes Gedankenexperiment: Angenommen, die Hamas verfügte nur eine Nacht lang über die militärischen Möglichkeiten Israels — Atomsprengköpfe, mit den modernsten Waffen ausgerüstete Landarmee, eine Luftwaffe —, was wäre am nächsten Morgen noch von Israel übrig?
Verhältnismäßigkeit
Einer der am meisten missverstandenen Begriffe im Kriegsvölkerrecht. Es geht dabei nämlich nicht darum, dass am Ende eines Krieges die Zahl der Opfer auf beiden Seiten ungefähr gleich sein muss. Sonst hätte Israel sich ja jetzt das Recht erworben, etwa 1200 palästinensische Kinder, Frauen und Männer umzubringen. Eine obszöne Vorstellung.
Verhältnismäßigkeit heißt vielmehr: Die Gefahr, dass Zivilisten umkommen, darf dann (aber nur dann!) in Kauf genommen werden, wenn der zu erwartende militärische Nutzen groß genug ist. Ein Beispiel: Wenn eine Panzerfabrik direkt neben einem Wohnhaus steht, dann ist es erlaubt, diese Panzerfabrik zu bombardieren — wenn gewährleistet ist, dass dadurch die Produktion von Hunderten Mordwerkzeugen ausfällt.
Zionismus
Der Zionismus ist die Nationalbewegung des jüdischen Volkes. Er ist nicht heiliger und nicht unheiliger als andere Nationalbewegungen auch, etwa jene der Griechen, der Deutschen, der Iren, der Kurden oder — jawohl — der Palästinenser. Von Anfang an war Zionismus ein Familienname. Es gab also immer verschiedene Zionismen: Israels Staatsgründer Ben Gurion war Sozialist, sein wichtigster Gegenspieler Ze’ev Jabotinsky liberaler Nationalist, Raw Kook religiös, Theodor Herzl ziemlich säkular.
Wer Antizionist ist, muss bitte erklären, warum er gerade diese Nationalbewegung ablehnt und keine andere. Ferner muss er erklären, warum Thessaloniki — eine Stadt, die 500 Jahre lang zum Osmanischen Reich gehörte und in der viel mehr sefardische Juden als christliche Griechen wohnten — nicht sofort an die Türkei zurückgegeben werden muss.
Zwei-Staaten-Lösung
Kann man das sofort als „Lösung“ bezeichnen? Klar, den jetzigen Zustand ganz sicher auch nicht! Eine Dauerbesatzung des Westjordanlands oder ein israelisches Militärregime in Gaza – das kann auf Dauer nicht gut gehen!
Aber auch ein palästinensischer Staat ist nicht automatisch die Antwort, solange er nicht stabil und friedlich koexistieren kann. Entscheidend ist: Beide Seiten brauchen Strukturen, die das Überleben des jeweils anderen nicht infrage stellen. Israel hat in der Vergangenheit mehrfach angeboten, Gebiete wie das Westjordanland an Jordanien oder Gaza an Ägypten zurückzugeben – in der Hoffnung, dass sich stabile Nachbarn entwickeln. Also: Es geht nicht nur um Grenzen, sondern um tragfähige und stabile Nachbarschaft.